5. Oktober 2006
Deutschland. Ein Sommermärchen
Es war einmal im Land von Kaiser Franz und Prinz Poldi, da lebte ein seltsam Völkchen; geachtet für seine Tugenden, den Fleiß freilich, Pünktlichkeit und Disziplin. Aber geliebt? Lange nicht mehr. Zeit, dass sich was dreht. Dann kam König Fußball und mit ihm die Welt, zu Gast bei Freunden. Und es war Sommer, ein heißer; und es war schwarz, rot und es war geil. Deutschland, einig Fußballland. Nichts ist mehr wie es mal war. „Ein Sommermärchen“. Sönke Wortmann ist stets dabei. Seine Dokumentation aber nie wirklich mittendrin.
„Stuttgart ist viel schöner als Berlin, schöner als Berlin, schöner als Berlin!“ So skandierten’s die Massen am 8. Juli jenes denkwürdigen Sommers 2006 im Schwabenland und anderswo. Und sie hatten recht. Ausnahmsweise mal. Wimps And Posers Leave The Hall! Die baden-württembergische Landeshauptstadt war wie ausgewechselt; so lebendig, so bunt, so ausgeglichen und so fröhlich, wie vielleicht noch nie — und wohl auch nimmer mehr. Das eigentliche Finale nur noch Nebensache.
Karneval in Stuggi, Fan-Fest, Ausnahmezustand und nicht nur dort. Kollektiver Freudentaumel von Hamburg bis nach München und schier überschäumende Begeisterung. Was wir alleine nicht schaffen, das schaffen wir dann zusammen: Das Volk mit dem Herz in der Hand und dem Fähnchen auf dem Dach, ja so stimmten sie alle ein. Und das nur, weil ein paar Klinsmänner auch ohne die höchste Spielkultur und nicht gerade filigran, aber dafür mit Leidenschaft im und Teamgeist am Bein zu Werke gingen. Was war das denn, bitteschön? Der Endpunkt eines langen Weges aus der Krise und aus der Depression? Dieser Weg wird wirklich kein (so) leichter sein. Aber schau’n mer mal.
König Fußball macht selbst im Kino keine Ausnahme
Die meisten Treffer erzielt, nämlich 14, die meisten Schüsse abgegeben, nämlich 113, den besten Torschützen des Turniers, nämlich Miroslav Klose — doch das Wunder von Berlin, es blieb aus. Denn nur einer hält ihn fest, so ist das nun einmal. Sonst hätte Sönke Wortmann den Titel seines ersten Fußballfilms nur geringfügig zu ändern brauchen. „Helden 06″, wie im gleichnamigen Lego-Animationsfilm prophezeit, wurden sie dennoch. Immerhin, der Titel „Weltmeister der Herzen“ gehört uns, die Hinterhand Jürgen Klinsmann und auf dem Masterplan standen weit mehr als nur die Namen von Ayala und Esteban Cambiasso. Wortmann lüftet in seiner WM-Doku „Deutschland. Ein Sommermärchen“ auch dieses Geheimnis um den mysteriösen Zettel und seine Bleistiftnotizen, welchen Torwart Jens Lehmann vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien zugesteckt bekam.
Eigentlich kurios: Selten dürfte ein Kinostart mit derartiger Spannung erwartet worden sein, bei dem doch ein jeder schon sein Ende kennt. Aber so isser er halt, der Fußball. Er hat seinen eigenen Gesetze, da macht er selbst im Kino keine Ausnahme. Denn Millionen haben mit ihrer Nationalmannschaft gefiebert, aber keiner war näher dran als Sönke Wortmann. Und jetzt dürfen wir’s also endlich auch alle sein und die WM noch einmal von vorn erleben. Das Bangen, die Freude und die Enttäuschung. Eins und zwei und drei und — so dachten wir.
Bis in die Kabine folgt der Regisseur den WM-Helden mit seiner Panasonic DVX 100, unterstützt von Frank Griebe und den Kamerakindern Poldi und Schweini; filmt Klinsis flotte Ansprachen („Die Polen stehen mit dem Rücken zur Wand“); sitzt auf der Bank, in der Kabine wie im Mannschaftsbus; zeigt deren Rituale mit Audio-Prediger Naidoo; wir begleiten ihn hinunter in die Stadionkatakomben; sind dabei, wenn wie die Friseuse Miro Klose erklärt, warum es total wichtig ist, einen Stammfriseur zu haben; linsen Neuville bei der Dopingkontrolle durch den Türspalt und sehen die Freudenfeiern und auch die Enttäuschung nach dem verlorenen Halbfinale gegen den als Pizzalieferant geschmähten Kontrahenten Italien.
Für Regisseur und Film hätte es eigentlich besser gar nicht laufen können. Im Schweden-Stil jeden Gegener zerlegen erfreut zwar die Massen in Stadion, Biergarten, Kneipe und beim Public Viewing, aber im Kino braucht’s neben Emotionen auch Dramatik. Der Star ist ausnahmsweise wirklich die Mannschaft und der muss wie alle Leinwandhelden zwischendurch mal einen herben Dämpfer hinnehmen. Genau mit diesem steigt Wortmann denn auch ein, geht sodann einen Schritt zurück, um am Ende mit dem Spiel um Platz drei zwei voraus zu sein: Wir durchleben die Vorbereitung, das Hinfiebern aufs Eröffnungsspiel und wenn wir unserer Elf im Münchner FIFA-Stadion durch den Kabinengang ins Freie folgen, ist es fast genau wie am 9. Juni. In schaudernder, vorfreudiger Erwartung der Gänsehaut und einem Anflug jenes unbeschreiblichen Kribbelns, das sonst vielleicht nur die einzig wahre schönste Nebensache der Welt im menschlichen Körper auszulösen vermag.
Und Wortmann? Der kommt zu früh und behält auch noch die Socken an — nur um beim Bild zu bleiben. Nun darf also auch ein jeder Mann erfahren, wie es ist, wenn’s nix gewesen ist: Keine Stadion-Atmo, lediglich vermeintlich stimmungsvolle Musik ist geboten, ein paar läppische Zeitlupen, und zwar von jedem Tor genau eine, keine Wiederholungen. Und Abpfiff. Was war das denn, bitteschön? Aua, ein Foul am Zuschauer. Wir denken zurück an jene Momente, rufen uns die eigenen Bilder vor Augen und Ohren. Welch Wahn-sinn! Und jetzt das Ganze nochmal mit Dolby Sourround-Unterstützung… Was hätte man hier mit einfachsten Mitteln für Emotionen schüren können! Finger weg vom Ton und laufen lassen; jedes Tor einmal, zweimal, dreimal. Aber verschenkt, denn knapp vorbei ist auch daneben.
Mögen die Regler wenigstens in den nachfolgenden K.O.-Spielen etwas hochgezogen sein, die Bilder verblassen. Es kommt nicht mehr viel rüber, von dem was einmal war. Wortmann verpasst es, die Geschichte der Spiele zu erzählen, ja die Spiele die Geschichte erzählen zu lassen. Zentrale Ereignisse wie der erste Treffer von Lahm im Eröffnungsspiel gegen Costa Rica, Neuvilles Siegtor gegen die Polen in letzter Minute nach Flanke von Odonkor, oder jene Ecke, von der man nur allzu gut weiß, dass sie gleich zum alle Träume beendenden 1:0 für Italien führen wird — sie kommen zwar allesamt vor, aber nicht in ihrer Tragweite zur Geltung.
Wortmann verpasst die Stimmung dort, wo der Wahnsinn seinen Ursprung weiß
Ähnliches gilt für manchen Protagonisten. Wortmann lässt ausschließlich Bilder und Akteure spre
chen — da sind wir völlig d’accord — an Orientierungshilfen bietet er Einblendungen von D
atum und Ort, aber Bauchbinden der Personen gibt es nicht. Den Jürgen und den Jogi, ja die erkennen wir freilich auch so; den Euro-Andi und seinen Golden G-Olli sowieso und unsere Elitekicker halten wir gleichfalls noch auseinander. Aber wenn der Stab aus Fitness-Coaches, Psychologen und Spielbeobachtern zu Wort kommt, kann man sich deren Funktion allenfalls noch mühsam aus dem Gesagten herleiten.
Auch auf eine Einordnung der Ereignisse verzichtet Wortmann fast gänzlich. Allenfalls darf der Bundestrainer a.D. ein paar Statements loswerden, die einem Interview entstammen, das Wort– mit Klinsmann im August in dessen kalifornischer Heimat geführt hat. Er macht sonst aber auch vieles richtig; zeigt einiges, aber nicht alles, wahrt Intimsphären. Und stellenweise hat er’s dann doch noch eingefangen, die Ausgelassenheit auf den Straßen, allerorten; die winkenden Soldaten, Polizisten, Frau Merkel, Italiener und all die anderen Spielverderber. Geht ja auch fast gar nicht anders. Aber er verpasst die Stimmungen eben dort, wo der Wahnsinn seinen Ursprung weiß: im Stadion.
Übereilige Fertigstellung oder überwältigende Erinnerungen?
100 Stunden Filmmaterial in drei Monaten sichten und schneiden, da hieß es wohl Tempo machen bevor die Euphorie vollends abebbt und das letzte Fähnlein von den Autodächern der Nation verschwunden ist. Ob der Hauptschwachpunkt von „Deutschland. Ein Sommermärchen“ am Ende der eiligen Fertigstellung geschuldet ist? Oder sind unsere Erinnerungen nur dermaßen überwältigend, dass kein Mitschnitt dieser Welt auch nur annähernd an diese Momente herankommen kann? Mag sein; und welch ein Glück, dass wir allesamt dabei waren. Denn Sönke Wortmanns Werk schafft es schlicht und ergreifend nicht, die extremen Emotionen eigenständig wieder aufleben zu lassen; Emotionen, die so heftig waren, dass sie dieser Sommertage ein ganzes Land zu bewegen wussten.
Unter böswilliger Auslegung sind die 107 Minuten sogar nicht mehr als DVD-Bonusmaterial vom nicht zustande gekommenen Spielfilm „Das Wunder von Berlin“. Die beinah schon lieblos abgespulten Spielsequenzen sind nur das ganz große Manko einer nicht ganz makellos aufbereiteten Vier-Wochen-Dokumentation, die einfach nur dabei ist statt mittendrin zu sein. Schade, denn so einfach wie es sich die Sportfreunde Stiller gemacht haben, ist dieser cineastische Lattenknaller nicht mehr zu versenken. Für alle anderen darf nach wie vor gelten: Und am Kap der guten Hoffnung probieren wir’s nochmal!